Aargau 2074

Vier Versuche

I

Mein Sohn sitzt mit seiner zweijährigen Enkelin am Ufer der Limmat. Sie schauen hinab auf ihre Zehen, dann ins Schilf, wo sie einen Grasfrosch von der Seiten sehen, der die Backen bläht. «Sieht aus, als kaue er Kaugummi», sagt mein Sohn. «Ka-i», sagt die Enkelin.

Vielleicht fängt die Geschichte aber auch anders an.

Mein Sohn sitzt mit seiner Enkelin am Ufer der Limmat. Er kaut Kaugummi, formt eine Blase, was ihn an Wasserfrösche denken lässt: «Früher konnte man hier Frösche beobachten», sagt mein Sohn. Frö-was?, fragt die Enkelin.

Im Aargau fing man irgendwann an, selbst vom Aussterben bedrohte Froscharten einzufangen, um sie zu Aphrodisiaka zu verarbeiten. Die Idee hatten solche, die sonst Grenzübertritten im Allgemeinen nur wenig abgewinnen konnten, aus dem peruanischen Untergrund in den Aargau importiert. An einem Parteiabend…die Autorkorrektur korrigiert hier immer zu Partyabend…an einem Partyabend also…als alle Plaketten mit Partyslogans trugen…die man sich mit etwas ans Revers heftete…das eine Sonne hätte darstellen sollen…in Wahrheit aber aussah wie ein Genderstern…was einem aber erst am nächsten Morgen aufgehen sollte… manche weinten…an einem Partyabend also schlug man sich auf die grauen Schulterpolster und bekräftigte: Man wollte Frösche fangen, mit dem Ziel, sie zu verkochen, eigentlicher noch: die Liebe anzufachen. Und es wäre recht gewesen: Mehr Liebe hätte manchem gutgetan. Wenn es denn um Liebe gegangen wäre. Am gleichen Abend beschloss man – es musste schon reichlich Bier geflossen sein – , dass man sich die Zeit neben der Froschjagd damit vertreiben könnte, mehr Atomkraftwerke zu bauen. Man applaudierte sich und die ersten zogen sogleich los in die Natur, Steine und Amphibien zu suchen. Und irgendwie hängt ja beides zusammen: mehr Liebe, mehr Energie ­– was auch immer zuerst gestanden haben mochte.

II

Ich trage einen Zettelkasten namens Kopf mit mir herum, darin ausgeschnitten: Schnipsel, Lettern drauf aus Zeitschriften, Zeitungen, die heissen: Erinnerung und Gegenwart, was hinter mir liegt, worin ich mich verkrieche: zwei Schubladen, aber keine für die Zeit, die kommt. Ich leere aus: so fällt das eine ins andere, fällt zusammen.

Vor mir drehen sich Kanuten durch die Tore, dass man an Cricket denkt, wie man zurückmuss, wenn man sich vertut, und an den Garten, an den Hund, der jedem Ball nachjagte, sodass an Cricket zwar zu denken, doch das Spiel unmöglich auch zu spielen war. Ausser man spielte Cricket in Gedanken. So klackte Holz auf Holz im Kopf und man erfand: dass der Ball zwischen den Rosenstöcken in den Zaun einschlug, verschwand, niemand verlor, niemand gewann. Man befand, dass es ohnehin ziemlich dämlich war, einen Ball durch Metalltörchen zu schiessen und sich dann auch noch als Sieger zu fühlen, und dankte dem Hund.

Wenn die Kanuten durch die Tore gleiten, man an Wäsche denken kann zwischen Klammern so im Gegenlicht, wenn sie hängenbleiben, leicht nur, dass die Tore zittern, ein Vibrieren durch die Schnüre läuft, als hätte es noch etwas vor, wolle so im Gehen nur noch zeigen: wie alles zusammenhängt oder zusammenhängen könnte,…

…könnte man das Kind übersehen, zwei Jahre oder älter, das am Fussufer steht und in die Luft greift.  

III

Überhaupt kann man viel sehen, wenn man schlecht sieht.

IV

Die Aargauer Autor*innen werden auch im Jahr 2074 noch in den staubigen Flussbetten sitzen. Und sie werden die Backen blähen, auf dass sie anwachsen, ballongross oder grösser werden…und leicht, so leicht, dass sie abheben und davongetragen werden. Wohin? Was weiss ich. Das Gute an der Provinz ist, dass du leicht davongetragen werden kannst, wenn du einmal aufgestiegen bist. Es gibt wenig, wo du dagegenstossen kannst. Kaum hohe Gebäude und so…Das höchste misst 360 Meter, sieht aus, als schlote das Feld in den Himmel und steht im Jurapark.

Dieser Text entstand für ein Projekt des Aargauer Literaturhauses Lenzburg (https://www.aargauer-literaturhaus.ch/)

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